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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Niemand kann glauben, was diese Nacht in Bilal Town geschehen sein soll, in diesem hoch militarisierten Stadtteil von Abbottabad, wo die Armee eine Kadettenschule betreibt, wo Kasernen inmitten grüner Landschaft stehen und wo Pakistans Militärpolizei ständig patrouilliert.
Ausgerechnet hier wurde in der Nacht, gegen 1.30 Uhr,Osama Bin Laden getötet, der meistgesuchte Mensch der Welt .
"Ich glaub's einfach nicht", sagt Jehangir Khan, der in Bilal Town lebt. "Wie kann es angehen, dass er sich in dieser hochgesicherten Stadt verstecken konnte?", sagt der Geschäftsmann. Wie viele Einwohner des Stadtteils wurde er in der Nacht durch eine schwere Explosion geweckt. "Wir waren sehr erschrocken, in Abbottabad hat es noch keine Terroranschläge gegeben", sagt Saifullah, ein Student aus Abbottabad.
Saifullah kletterte auf das Dach seines Elternhauses und sah "zwei oder drei Hubschrauber, es gab eine Schießerei". Andere Anwohner schalteten die Fernseher ein, auch da war von zwei oder drei Hubschraubern die Rede.
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Tödliche US-Operation: Jagd auf Bin Laden
Foto: REUTERS/ The White House
Der US-Angriff war von langer Hand vorbereitet, eine monatelange Geheimdienstarbeit war der riskanten Aktion in einem dicht besiedelten Gebiet vorausgegangen. Ein Bin-Laden-Bote hatte die Sicherheitsexperten auf die Spur gebracht - ein Mann, den die USA schon seit einiger Zeit überwachten. Guantanamo-Häftlinge hatten ihn in Verhören als einen Schützling von Chalid Scheich Mohammed identifiziert, dem mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge vom 11. September und als einen von wenigen Qaida-Kurieren, denen Bin Laden traute. Sie deuteten auch an, dass dieser Mann mit Bin Laden zusammenleben und als ein Bodyguard für ihn fungieren könnte. Sie lieferten auch seinen Decknamen.
Die Agenten brauchten vier Jahre, um die Identität des Kuriers herauszufinden. Vor zwei Jahren machten sie dann Gebiete in Pakistan aus, in denen der Kurier zusammen mit einem Bruder operierte. Aber wo die beiden Männer wohnten, blieb immer noch im Dunkeln - dank der intensiven Sicherheitsvorkehrungen des Gespanns, die die US-Geheimdienstler immer stärker davon überzeugten: "Wir sind auf der richtigen Spur."
Der Durchbruch kam nach US-Angaben im vergangenen August, als der Unterschlupf gefunden wurde. Es war ein Anwesen in einem Vorort von Abbottabad, etwa 60 Kilometer Luftlinie nördlich von Islamabad. "Wir waren schockiert von dem, was wir sahen - ein außergewöhnliches, einzigartiges Anwesen", schilderte ein US-Regierungsbeamter die Situation.
Es ging um einen Gebäudekomplex auf einem großen Grundstück, gerade mal sechs Jahre alt - möglicherweise sogar eigens für Bin Laden gebaut, mutmaßen die Geheimdienstler heute. Die Schutzvorkehrungen sind enorm, bis zu fünfeinhalb Meter hohe Mauern mit Stacheldraht umgeben das Anwesen. Zugang gibt es nur durch zwei bewachte Tore. Die Bewohner verbrennen ihre Abfälle - vermutlich weil sie keine Spuren hinterlassen wollen.
"Luxuriöses Anwesen mit einer zweistöckigen Villa"
Anwohner beschreiben das Haus, in dem Bin Laden sich aufhielt, als ein "luxuriöses Anwesen mit einer zweistöckigen Villa" am Rand von Bilal Town. "Niemand konnte das einsehen, da ist eine hohe Mauer drumherum", sagt ein Nachbar, der namentlich nicht genannt werden möchte. Das Haus gehört nach Angaben der Nachbarn einem "sehr wohlhabenden Transportunternehmer", der selbst meist außerhalb von Abbottabad lebt. "Jeder weiß, dass dies das Haus eines reichen Mannes ist", sagte der Nachbar.
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Osama Bin Laden: Ein Leben, um zu töten
Foto: HO/ AFP
Am Nachmittag war der Ort des Angriffs immer noch weiträumig abgesperrt, immer mehr Journalisten und Neugierige trafen ein. Bei den Soldaten und der Militärpolizei lagen die Nerven blank, sie prügelten auf ein paar Journalisten ein und nahmen ihnen die Kameras weg.
"Dies ist ein Hochsicherheitsbereich", polterte ein Hauptmann. "Hier darf man nicht fotografieren." Dann zeigte er auf ein großes rotes Schild: "Restricted Area". Daneben ein grünes Schild: "Proud ofPakistan", stolz auf Pakistan.
Aber wie kann es sein, dassQaida-Chef Osama Bin Laden gerade hier, nicht einmal einen Kilometer von der Militärakademie entfernt, Unterschlupf fand? "Wir können nichts dazu sagen", blaffte der Hauptmann die Reporter an. In diesem Moment zog ein Traktor einen Anhänger mit einem hausgroßen, mit braunen Decken bedeckten Gegenstand vom Tatort. Vermutlich handelte es sich um Hubschraubertrümmer. Kamerateams schalteten ihre Geräte ein, Soldaten brüllten und rissen die Kameras weg.
"Es gibt doch eigentlich kein besseres Versteck für Bin Laden", sagt ein zweiter Soldat an der Absperrung leise. "Wer hätte ihn ausgerechnet hier vermutet?"
"Helikopter schweben um ein Uhr nachts über Abbottabad"
Nach Informationen des US-Nachrichtensenders CNN starb der 54-jährige Bin Laden durch einen Kopfschuss.Seine Leiche wurde umgehend im Meer bestattet. Auf ihn war laut der US-Bundespolizei FBI eine Prämie von 25 Millionen Dollar ausgesetzt.
Dem Tod von Bin Laden ging eine 40-minütige Blitzaktion voraus. US-Elitesoldaten stürmten den stark gesicherten Gebäudekomplex. Sie waren von Hubschraubern von einem pakistanischen Luftwaffenstützpunkt im Norden des Landes zu dem Gelände geflogen worden. Der Terrorchef und seine Getreuen setzten sich zur Wehr, Wachen schossen vom Dach aus auf die landenden Hubschrauber. Es folgte ein langes Feuergefecht, bei dem Bin Laden, drei weitere Männer und eine Frau getötet wurden.
Der US-Fernsehsender ABC hat die ersten Videoaufnahmen vom Anwesen des getöteten Bin Laden ausgestrahlt: Die Bilder zeigen zerwühlte Betten und komplettes Chaos in einem Zimmer. Auf dem Fußboden vor zwei der Betten sind Blutlachen zu sehen. Kleidungsstücke, Kissen und zertrümmertes Glas liegen umher. Ein Kleiderschrank und ein Wandregal sind durchwühlt. Das Schlafzimmer mit einem großen Bett hat nur eine Reihe schmaler Fenster. Das kurze Videoband endet offenbar in einem Badezimmer, in dem mehrere Medikamentendosen auf einem Regal stehen.
Unter den Toten der US-Aktion sind nach Vermutungen der US-Stellen ein Sohn Bin Ladens und seine zwei Kuriere. Keiner der Amerikaner kam zu Schaden.
Eine Festnahme Bin Ladens war offenbar nicht geplant: Es habe sich um eine "Kill Mission" gehandelt, berichtete der US-Sender CNN unter Berufung auf offizielle Quellen.
Der Programmierer Sohaib Athar meldete den tödlichen Angriff auf Bin Laden, ohne zunächst zu ahnen, was sich in Abbottabad abspielte: "Helikopter schweben um ein Uhr nachts über Abbottabad (das passiert selten)", schrieb er über den Kurznachrichtendienst Twitter. Athar war offensichtlich genervt von dem Lärm: "Verschwinde, Helikopter - bevor ich dich mit meiner riesigen Fliegenklatsche plattmache :-/."
Er später wurde ihm klar, dass er Zeuge der Kommandoaktion gegen den Qaida-Chef wurde: "Oh, jetzt bin ich der Typ, der den Angriff auf Osama live gebloggt hat, ohne es zu wissen."
Mit Material von AFP und dpa